Kreta ist ein Kontinent im Taschenformat, und seine Schluchten sind die Kapitel, in denen die Insel am intensivsten erzählt. Seit über zwei Jahrzehnten folge ich diesen steinernen Zeilen – vom Donnern großer Klassiker bis zum leisen Flüstern schmaler Geheimtipps. Was sie alle verbindet: Der Wechsel aus Licht und Schatten, Fels und Wasser, der Tritt auf uralten Pfaden und das Gefühl, am Ende nicht nur eine Landschaft, sondern auch die eigene Wahrnehmung durchquert zu haben.
Dieser Guide führt dich durch die schönsten Schluchten der Insel – mit ehrlichem Blick auf Schwierigkeit, Charakter und Logistik. So findest du jene Tour, die zu deiner Kondition, deinem Zeitfenster und deiner Abenteuerlust passt.
Alle Schluchten und Highlights findest Du auch auf dieser Karte. Tipp: Ein Klick auf [ ] öffnet sie direkt in Google Maps (funktioniert auf dem Smartphone).
Samaria-Schlucht – der große Atemzug
• Länge/Dauer: ca. 16 km, 5–7 Stunden, überwiegend bergab
• Schwierigkeit: anspruchsvoll (Kondition, Trittsicherheit)
• Start/Ziel: Omalós-Hochebene → Agía Rouméli (nur per Boot erreichbar)
• Charakter: monumentale Steilwände, Kri-Kri-Ziegen, „Eiserne Pforte“
• Für wen: Geübte Wanderer mit solider Grundkondition
Die Samaria ist kein Spaziergang, sondern ein Tagesprojekt. Wer früh startet, erlebt die Schlucht in ihrem eigenen Rhythmus. Wichtig: Einbahnlogistik planen (Fähre ab Agía Rouméli, Rückfahrt per Bus/Taxi). In der Hochsaison stark frequentiert – die Größe bleibt trotzdem überwältigend.

Die Etappen der Samaria-Schlucht
- Xylóskalo – der Abstieg ins Thema
Direkt am Rand der Omalós-Hochebene beginnt der steile Serpentinen-Abstieg. Hier klärt sich, ob die Schuhe passen und der Rucksack sitzt. Der Höhenverlust ist spürbar; Stöcke helfen Knie und Konzentration. - Unter alterndem Grün: Ágios Nikólaos
Unten weitet sich das Tal kurz. Platanen, Zypressen, der erste Rastplatz und eine kleine Kapelle markieren den Übergang vom Abstieg ins lange Mittelstück. Das Licht flirrt gefiltert, das Tempo pendelt sich ein. - Samaría – Dorf als Erinnerung
Die Ruinen des einstigen Bergdorfs sind die stille Mitte der Tour. Wasser nachfüllen, kurz hinsetzen, dem Geröll die Schultern geben. Mit etwas Glück zeigen sich Kri-Kri (Kretische Wildziege (Capra aegagrus cretica), auch als Kretische Gämse oder Agrimi bekannt) in den Hängen – bitte Distanz wahren. - Enger werden die Wände – Flussbett
Der Pfad folgt nun enger dem Flussbett, quert es mehrmals, tastet über Geröll und Holzstege. Hier zählt Trittsicherheit mehr als Tempo. In Steinfallzonen zügig gehen, nicht stehenbleiben. - Die Eiserne Pforte
Die berühmteste Passage: Felswände rücken bis auf wenige Meter zusammen, über dem Kopf nur noch ein Spalt Himmel. Kamera kurz zücken, dann wieder die Augen nach vorn – der Untergrund bleibt unruhig. - Auslauf nach Agía Rouméli
Hinter der Enge öffnet sich das Tal. Der Pfad wird weicher, das Meer rückt heran. In Agía Rouméli wartet das Salz als Belohnung und – ganz wichtig – die Fähre.
- Wer die Samaria „allein“ erleben will, schläft in Omalós und steht beim ersten Licht am Einstieg.
- Der erste Kilometer entscheidet über den Tag. Wer hier hetzt, „zahlt“ später. Ein ruhiger, kontrollierter Abstieg spart Kraft für das stundenlange Traversieren im Bachbett.
- Plane am Ende 30 Minuten Reserve für Meer, Bootsableger und ein leichtes Essen. Es ist erstaunlich, wie schnell man nach 16 Kilometern vom Wanderer zum glücklichen Fährgast wird.
Imbros-Schlucht – die elegante Alternative
- Länge/Dauer: ca. 8 km, 2–3 Stunden
- Schwierigkeit: leicht bis mittel, familiengeeignet
- Start/Ziel: Imbros → Komitádes (Taxis/Shuttle am Ausgang)
- Charakter: schmale Passagen, mediterrane Vegetation, Felsreliefs
- Für wen: Einsteiger, Familien, alle mit begrenzter Zeit
Die Imbros ist die konzentrierte Essenz aus Fels und Licht. Sie erzählt leiser als Samaria, dafür intimer. Ideal bei wechselhaftem Wetter oder wenn die Beine am Folgetag noch Pläne haben.

Aradena-Schlucht – Wildnis mit Nachdruck
- Länge/Dauer: 6–8 Stunden je nach Route
- Schwierigkeit: anspruchsvoll, teils leichte Kletterstellen/Blockfelder
- Start/Ziel: Brücke von Aradena → Marmara-Strand (Rückweg per Küstenpfad nach Loutro/Taxi-Boat oder Aufstieg nach Anópoli)
- Charakter: dramatische Wände, alte Steinpfade, viel „Canyon-Gefühl“
- Für wen: Erfahrene, die Abgeschiedenheit und etwas Kraxelei mögen
Die Aradena ist eine Begegnung auf Augenhöhe. Sie verlangt Konzentration, schenkt dafür Stille, Geologie zum Anfassen und die vielleicht schönste Schluss-Szene: das Meer am Ende.

Sarakina-Schlucht – das kurze Abenteuer
- Länge/Dauer: 1,5–3 km aktiv, 1,5–3 Stunden (je nach Wasserstand und Spieltrieb)
- Schwierigkeit: mittel, nasse Schuhe wahrscheinlich; kurze Kletterstellen
- Start/Ziel: Nähe Myrthios/Mýthoi (Südostkreta)
- Charakter: eng, verspielt, zeitweise Wasserläufe, polierte Felswannen
- Für wen: Neugierige mit Lust auf Abwechslung ohne Ganztagstermin
Die Sarakina ist ein Abenteuerspielplatz der Natur. An warmen Tagen wird sie zur willkommenen Erfrischung – und lehrt, wie lebendig Wasser Landschaft formt
Richtis-Schlucht – grün, kühl, überraschend
- Länge/Dauer: 6–8 km je nach Variante, 3–4 Stunden
- Schwierigkeit: leicht bis mittel, trittsicheres Schuhwerk genügt
- Start/Ziel: oberer Einstieg bei Exo Moulianá oder unten am Richtis-Beach (Hin- und Rückweg oder Durchstieg)
- Charakter: Platanen, Farn, Bachlauf, Wasserfall mit Naturpool; Tour endet oft am Meer
- Für wen: Ruhesuchende, Fotofans, Genießer schattiger Pfade
Wer den Richtis-Wasserfall erreicht, versteht Kretas zweite Farbe: Das Grün. Hier klingt die Insel anders – leiser, kühler, fast wie eine versteckte Seitenkapelle des Sommers
Kritsa-Schlucht – die schmale Schule der Achtsamkeit
- Länge/Dauer: 4–7 km, 2–4 Stunden (Rundtouren möglich)
- Schwierigkeit: mittel, einzelne Kraxelstellen, manchmal sehr schmal
- Start/Ziel: Dorf Kritsá (nahe Ágios Nikólaos)
- Charakter: schattige Engstellen, helle Kalkwände, Dorfanschluss für Kaffee danach
- Für wen: Geübte Spaziergänger, die etwas „Kante“ mögen
Kritsa ist eine Lektion in Langsamkeit. Wer hastet, übersieht die fein gezeichneten Felsstrukturen und den Duft der Macchia, der aus jeder Verengung neu aufsteigt
Topolia-Schlucht – nordwestliches Bilderbuch
- Länge/Dauer: 3–4 km Abschnitt, 1,5–2,5 Stunden
- Schwierigkeit: leicht bis mittel
- Start/Ziel: Nähe Topoliá (Richtung Kissamos)
- Charakter: wildromantisch, Bachlauf, vielfältige Flora; kombinierbar mit einem Dorfstopp
- Für wen: Naturliebhaber, die es gern gemütlich angehen
Topolia ist kein Spektakel – und gerade deshalb wohltuend. Eine Spazier-Wanderung, die den Kopf frei räumt
Ha-Schlucht – die dramatische Diva
- Länge/Dauer: variabel, technische Passagen
- Schwierigkeit: sehr hoch; nur für sehr Erfahrene mit Ausrüstung/Guide
- Start/Ziel: Ierapetra-Region (Ost-Zentral)
- Charakter: extrem steil, eng, geologisch einzigartig
- Für wen: Canyoning-Könner und Alpinfüchse
Die Ha ist kein Wanderweg. Wer sie ernst nimmt, geht mit Guide, Helm, Seil – oder lässt sie aus respektvoller Distanz auf sich wirken
Kallikratis-Schlucht – Stille mit Aussicht
- Länge/Dauer: 6–10 km je nach Variante, 2–4 Stunden
- Schwierigkeit: leicht bis mittel
- Start/Ziel: Askifou-Hochebene ↔ Kallikrátis
- Charakter: Bergterrassen, Blumen im Frühling, große Weite
- Für wen: Alle, die Einsamkeit und Landschaftsblicke dem Spektakel vorziehen
Die Kallikratis schenkt jene Pause, die man nach Samaria & Co. braucht – ein offenes Fenster im Gebirge
Kollita-Schlucht – Zwillingsweg ins Grün
- Länge/Dauer: 8–10 km Rundtour, 3–4 Stunden
- Schwierigkeit: leicht bis mittel, familienfreundlich
- Start/Ziel: Argyroúpoli (Quellen)
- Charakter: zwei parallele Canyons, Quellen, kleine Wasserfälle, viel Schatten
- Für wen: Genießer, Familien, Fotofans
Kollita ist die Einladung, Schluchten als Spaziergänge zu begreifen. Wer hier unterwegs ist, kommt mit leichten Beinen und großen Erinnerungen zurück.
Praktische Hinweise für alle Touren auf Kreta
- Saison & Wetter: Viele Schluchten sind im Winter/Frühjahr wasserführend oder gesperrt. Vorab Öffnungen/Verhältnisse prüfen
- Schuhe & Ausrüstung: Feste Wanderschuhe, Wasser (mind. 2–3 Liter p. P.), Sonnenschutz, Snack. Für Aradena & Co. optional Stöcke
- Logistik: Einbahn-Schluchten (v. a. Samaria) brauchen Rückfahrtplanung (Fähre/Bus/Taxi). In Familiengruppen an kürzeren, schattigen Touren starten
- Respekt: Steinfallzonen zügig durchqueren, kein offenes Feuer, keinen Müll zurücklassen. Wasserläufe mit Bedacht queren
Gedanken zum Schluss – Schluchten zum Wandern auf Kreta
Am Ende einer Schlucht auf Kreta öffnet sich das Tal, das Meer schimmert, und der Wind riecht nach Thymian. Mehr braucht es nicht. Ich habe viele dieser Wege gegangen – die langen, wie die Samaria, und die leisen, wie die Imbros. Jeder Schritt war einfach ein Schritt, doch am Ende war ich ein anderer Wanderer als am Anfang.
Die Insel erzählt ohne große Worte. In Aradena zieht der Fels die Schultern zusammen und prüft dich, in Richtis flüstert das Wasser zwischen Platanen, und irgendwo über uns stapfen die alten Götter in schweren Sandalen über den Grat. Man muss sie nicht sehen, um zu begreifen, dass hier seit langer Zeit Ordnung herrscht: Fels, Wasser, Licht – und der Mensch, der dazwischen seinen Weg findet.
Vielleicht ist es das, was Kreta schenkt: Einen klaren Blick. Die Schluchten verlangen nicht mehr als Ruhe, Achtung und einen verlässlichen Tritt. Dafür geben sie diesen einfachen, guten Stolz, den man spürt, wenn man aus der Enge ins Offene tritt und den ersten Streifen Meer erblickt. Kein großes Pathos, nur das Gefühl, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein.
Wenn du wieder am Strand stehst, die Schuhe in der Hand, hörst du vielleicht noch einmal das Murmeln hinter dir. Nenn es Poseidons Laune oder nur den Wind in den Steinen – was du hörst ist die Stimme der Insel. Und sie sagt: Komm wieder. Diese Insel hält noch Wege genug bereit, und jeder führt dich ein Stück weiter, als du gedacht hast.